Veni, vidi, vegi (9) – Phantomschmerz

Markt in den Niederlanden

Über viele Jahre habe ich für unser westliches Nachbarland geschwärmt, die Niederlande. Ich fuhr regelmäßig in die grenznahen Orte: Winterswijk, Venlo, Enschede und auch Nijmegen. Ich entdeckte das Hinterland, die Gegenden an IJsselmeer und Nordsee und beschäftigte mich sogar intensiv mit Sprache, Literatur und der Kultur des Landes. Und das Essen, ja, die Liebe für die Niederlande ging vor allem durch den Magen: Stroopwafels, Lakritz, Vanilevla, Hagelslag, Pommes speciaal, all die feinen Leckereien, die es bei uns nicht gibt und die nach Nordseeurlaub und Kindheit schmecken.

Begonnen hat es, mal abgesehen von den frühen Urlauben, mit einem Sprachkurs an der Universität, der mir die Gelegenheit für ein Auslandssemester eröffnete. Einige Jahre später begann ich über die Niederlande zu bloggen, es kam ein Podcast dazu und schließlich das Angebot eines Verlages ein Buch über die Niederlande zu schreiben: „111 Gründe, die Niederlande zu lieben“

111 Gründe klingt viel, doch die Schwierigkeit dabei war nicht, genügend Gründe zu finden, sondern die Entscheidung, welche ich weglassen sollte. Schöner kann eine Fan-Freundschaft kaum laufen, sollte man denken.

Es folgten Rückschläge

Dennoch folgten Rückschläge, die die Liebe beeinträchtigten, zwei Rückschläge genau genommen. Der erste war Corona. Erst das Reiseverbot, dann, als wieder Besuche im Albert Heijn jenseits der Grenze möglich waren, war es die laxe Umgangsweise der Niederländer*innen mit dem Ansteckungsrisiko. Denn, als hierzulande das Tragen von Masken verpflichtend vorgeschrieben war und bis auf die ganz Rücksichtslosen alle auf Abstand achtetet, waren dort die freiheitsliebenden Nachbar*innen eher sorglos. Keine Maske, kaum jemand nutzte die aufgestellten Desinfektionsspender. Kurzum: Ich fühlte mich unbehaglich und reiste trotz der langen Zeit des Darbends kaum mehr ins Nachbarland.

Der zweite Rückschlag hat mit meiner Entwicklung hin zu veganer Ernährung zu tun. Wir erinnern uns: Süße Sirupwaffeln, Pommes Frites mit Mayonnaise, Schoko-Streusel, alle erdenklichen Laktitz-Varianten und der sähmige-cremige Vanillepudding aus der Ein-Liter-Pappschachtel. Nicht echt vegan. Je mehr ich mich mit veganer Ernährung beschäftigte, desto mehr wuchs die Abscheu vor tierischen Produkten, also vor fast allem, was ich mit dem Besuch in den Niederlanden verband.

Und nun? Fleischlose Ernährung war in den Niederlanden immer relativ einfach möglich, vegan ist in meiner bisherigen Erfahrung deutlich schwieriger. Und die Liebe bestand zum großen Teil aus Ritualen und Traditionen. Wochenmarkt, Pommes frites, der Käse aus dem Albert Heijn.

Es gilt, das Bekannte neu zu erkunden

Natürlich ist es auch möglich, in den Niederlanden vegan zu essen. Aber die Hürde ist höher, gefühlt deutlich höher als in Deutschland. Höher vor allem als in meinem Umfeld, das ich inzwischen hinsichtlich veganem Angebot neu erkundet habe.

Das Schlimmste ist vielleicht, dass mir nun bei Besuchen in den Niederlanden die Unbedarftheit abhanden gekommen ist, das Einfache, die Leichtigkeit. Wenn ich es reflektiere, ist gerade das natürlich gut. Denn genau die Unbedarftheit ist es, die viele am Konsum von tierischen Produkten festhalten lassen. Dennoch zeigt mir meine Erfahrung, dass es nicht leicht ist, diesen Sinneswandel aktiv durch Veränderung von Routinen umzusetzen. Weit ist der Weg von „Ja, ich liebe alle Tiere!“ bis „Ich handle so, dass für mich kein Tier mehr sterben oder gequält werden muss.“

Es bleibt ein Gefühl, das keine Projektionsfläche mehr hat. Ein Phantomschmerz?

Was bleibt also? Eine Liebe zu einer Region, die noch da ist, die aber auf die Probe gestellt wird. Eine Liebe, deren Rituale abhanden gekommen sind, eine Liebe, die weniger erwidert wird, als noch vor einem Jahr, erst Recht als vor der Corona-Zeit.

Es bleibt ein Gefühl, das keine Projektionsfläche mehr hat. Ein Phantomschmerz vielleicht.

Hoffnung auf zurückkehrende Leichtigkeit

Aber es bleibt auch meine Hoffnung, dass die Leichtigkeit wiederkehrt, wenn ich auch in den Niederlanden meine veganen Rituale gefunden habe. Und wenn, so wie bei uns, das Angebot an pflanzlichen Speisen und Produkten wächst, sodass ein unbedarftes Erkunden einer neuen Stadt ohne akribische Vorbereitung möglich ist.

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